Wertesysteme, Ziele & Emotionen
Bedarf für hierarchische Wertesysteme
Aufgrund der bereits angesprochenen unendlichen Komplexität unseres Lebens braucht jeder Mensch hierarchische Strukturen, um sich erfolgreich in der Welt zurecht zu finden. Das gilt für jeden Menschen, völlig unabhängig davon, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. In jedem von uns läuft ein automatischer, selektiver Wahrnehmungsprozess ab, welcher unser Überleben sichert. Wäre alles in unserer Umgebung für uns gleich wichtig, würden wir allem gleich viel Aufmerksamkeit schenken wollen, so wäre unser Leben nicht zu managen. Denn wäre alles gleich wichtig, so wäre auch alles gleich unwichtig. Wir wären verhungert, bevor wir jede Unebenheit in der Raufasertapete, jede Staubfluse und jede Faser des Teppichbodens einzeln mit der ihr gebührenden Aufmerksamkeit begutachtet hätten. Wir müssen also zwangsläufig priorisieren, um überhaupt lebensfähig zu sein! Diese auf dem eigenen Wertesystem basierenden Abläufe lernt jeder Mensch von Kindesbeinen an.
Dies gilt für die lebenserhaltenden Funktionen (essen/trinken, schlafen etc.) aber auch, wie das Wort Wertesysteme impliziert, für unsere Vorstellung von Moral und Ethik. Unser soziales Umfeld, unserer Familie und unseren Freunde lehren uns diese Werte. Diese können sich demnach von Land zu Land und von Ort zu Ort drastisch unterscheiden. Dennoch leben die meisten Menschen in einer Gesellschaft und akzeptieren den ihr zugrunde liegenden Gesellschaftsvertrag (social contract). Das bedeutet, dass wir unsere (absolute) Freiheit bis zu einem gewissen Grad aufgeben und im Gegenzug Sicherheit erhalten. Denn wie wir alle wissen, ist die Welt gefährlich! Doch wir können uns nicht jedes Mal, wenn wir einen anderen Menschen (den wir nicht kennen) sehen, Gedanken darüber machen, ob dies nun eine gefährliche Situation ist. Könnte die Person einen angreifen, ausrauben, vergewaltigen oder ermorden? Sich diese Fragen bei jedem menschlichen Kontakt stellen zu müssen, würde uns permanent in einen chaotischen Zustand versetzen. Auch wenn wir evolutionär darauf vorbereitet sind mit einer solchen Situation umzugehen, kann das kein Dauerzustand sein. Eine Gefahrensituation bedeutet Stress für den Körper und verändert unseren Hormonhaushalt. Das ist wichtig und richtig bei einer akuten Gefahr, auf lange Sicht jedoch alles andere als gesund. Es gibt auch ein Krankheitsbild bei dem exakt dieser Fall eintritt: Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS/PTSD). Bei dieser Störung verbleibt der Körper in einem permanenten "fight or flight" Zustand. Dies führt zu deiner dauerhaften Belastung für den Organismus, da dieser die ganze Zeit über Stresshormonen ausgesetzt ist.
Wann immer sich eine Person nicht an den Gesellschaftsvertrag hält, bedeutet das für die Menschen in ihrem unmittelbarem Umfeld, in einen chaotischen Zustand versetzt zu werden. Auch wenn wir Menschen objektiv betrachtet nie die volle Kontrolle haben, fühlen wir uns besser, wenn wir das (subjektive) Gefühl von Kontrolle haben. Wenn wir nun auf der Straße jemandem begegnen, der offensichtlich irrational handelt und wir nicht sagen können aus welchem Grund (Intoxikation, mentale Störung etc.), bringt das viele in eine unangenehme Situation. Möglicherweise ist es auch noch später Abend, man ist allein, in einer nicht gerade hell erleuchten Gasse. Man kann nicht einschätzen wie die Person reagiert. Hat einen die Person schon bemerkt? Wird sie wohl aggressiv wenn sie einem näher kommt? Das sorgt definitiv für ein mulmiges Gefühl in der Magengegend! Als jemand, der nur etwas mehr als 60 kg wiegt (auch wenn ich etwas vom kämpfen verstehe) mache ich mir so meine Gedanken, wenn ich einen 1,90 Kerl auf mich zutorkeln sehe. Wie das Gefühl als Frau sein muss kann ich mir nicht mal im Ansatz vorstellen! Die fehlende Kontrolle erzeugt ein Gefühl der Unsicherheit, welches uns Menschen zutiefst missfällt.
Darum der Gesellschaftsvertrag. Er schafft ein subjektives Gefühl von Kontrolle, da er es uns ermöglicht einzuschätzen, was wir in einer menschlichen Interaktion erwarten können. Damit dies funktioniert, müssen zwei Anforderungen erfüllt werden:
- Die Menschen in einer Gesellschaft müssen ein gemeinschaftliches Wertesystem besitzen.
- Sie müssen dementsprechend handeln!
Die ethischen Grundsätze des Gesellschaftsvertrages, beispielsweise die Achtung der Menschenrechte, sind für seine Funktion zweitrangig. So funktionieren Gesellschaften, deren Werte in unserer westlichen Welt als barbarisch erachtet werden trotzdem, da alle (oder zumindest die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft) diese Werte anerkennen und sich an ihnen orientieren. Ohne diesen Vertrag könnten Menschen nicht in größeren Gruppen friedlich zusammenleben. Er gilt zwischen den Generationen und über viele Generationen hinweg. Zwischen den Lebenden, den Toten und denen, die noch nicht geboren wurden. Er wurde von unseren Großeltern an unsere Eltern und von uns wird er an unsere Kinder und Enkel weitergegeben werden. Wie alles andere verändert sich auch der Vertrag im Laufe der Zeit, doch basiert er in unserer westlichen Welt auf den Grundlagen verschiedener Epochen, Regionen, Religionen und Kulturen. Unter anderem auf den griechischen und römischen Philosophen, dem Christen- und Judentum bis hin zum Zeitalter der Aufklärung. Er hat sich nie so schnell oder so drastisch verändert, dass er für frühere Generationen nicht mehr zu erkennen gewesen wäre.
Ziele und Emotionsregulation
Wir Menschen sind Lebewesen, keine Objekte. Wir stehen nicht still, wir bewegen uns auf jeder Betrachtungsebene. Wir bewegen uns mit tausenden Kilometern pro Stunde durch die Tiefen des Alls, auch wenn wir davon nichts merken. Die Zellen in unserem Körper teilen sich und sterben, unzählige Tausend jede Stunde, ja jede Minute. Und auf der Ebene unseres Bewusstseins ist es nicht anders, die Gedanken in unseren Köpfen sind immer in Bewegung und stehen nie still. Doch kann man sich im Leben vorwärts bewegen, rückwärts oder sich im Kreise drehen. Nicht jede dieser Bewegungsformen ist für unser Wohlbefinden, für unser subjektives Empfinden von Glück, auch tatsächlich förderlich.
Wir können uns entscheiden glücklich sein, jetzt in diesem Moment. Wir können eine Tätigkeit ausüben, die uns ein Glücksgefühl gibt, sei es Sport, ein Spiel mit Freunden oder auch der Konsum einer berauschenden Substanz. Das ist der hedonistische Ansatz: das Leben genießen. Hedonismus ist durchaus eine valide Möglichkeit Glücksgefühle zu erzeugen, doch sollte es nicht der einzige Weg sein, sich glücklich zu fühlen!
Was wir brauchen, ist ein Ziel. Etwas auf das wir zusteuern und das wir irgendwann erreichen können. Das Ziel selbst ist nicht der entscheidende Punkt, das weiß wohl jeder der schon einmal ein auserkorenes Ziel erreicht hat. Da arbeitet man lange darauf hin und dann, endlich, ist es soweit: Man hat das Ziel erreicht! Und dann? Hat man es erreicht, gibt es einem noch dasselbe Gefühl? Für den Augenblick vielleicht, doch nicht für lange Zeit. Schon bald benötigt man ein neues Ziel, nach dem man streben kann. Genau das ist der springende Punkt! Menschen empfinden ein Gefühl von Zufriedenheit, von Sinn, vielleicht Erfüllung, wenn sie sehen, dass sie einem anvisierten Ziel näher kommen. Es ist das Gefühl nicht stehen zu bleiben, zu sehen, dass man auf seinem Weg vorankommt! Laut Dr. Peterson, Professor für Psychologie der Universität Harvard und Toronto geben die Ziele die ein Mensch sich setzt seinem Leben einen Sinn. Das Entscheidende ist zudem, dass sich dieser Sinn proportional zum auserkorenen Ziel verhält. Das heißt je tugendhafter das Ziel ist, je mehr es nicht nur einem selbst nutzt, desto sinnstiftender ist dieses Ziel. Wenn ich mir nun also vornehme eine Sprache zu lernen, dann kann es mir große Freude bereiten, wenn ich sehe, dass ich die Sprache zunehmend besser beherrsche. Literarische Werke in der Originalsprache zu lesen kann ein ganz anderes Erlebnis sein. Oder man kann einen Urlaub völlig anders erleben, wenn man die Sprache der Menschen dort spricht. Dies eröffnet einem neue Wege. Wenn ich nun Menschen in meiner Kommune helfe, beispielsweise bei einer Tafel einsetze oder Hospizarbeit leiste und Menschen auf ihrem letzten Weg begleite, kann das sicher eine emotionale Bereicherung ganz anderer Art sein. Wenn ich mir es gar zur Lebensaufgabe mache, den Hunger in der Welt zu bekämpfen, kann mir jeder kleine Schritt in Richtung dieses Ziels Hochgefühle und langanhaltende Zufriedenheit bringen. Je mehr Erfüllung das Leben bringen soll, desto mehr Verantwortung muss man also übernehmen. Denn höchstmöglichen Zielen entgegen zu streben ist der beste Weg ein erfülltes Leben zu führen! Dies kann allerdings eine Gratwanderung sein, da die höchstmöglichen Ziele immer noch erreichbar sein müssen. Denn wenn man sich etwas heraussucht, das nicht zu erreichen ist, kann man auch keinen relativen Fortschritt zum Ziel erkennen. Dies würde schlussendlich den sprichwörtlichen Sinn der Sache zunichte machen.
Fassen wir zusammen: Wir Menschen brauchen ein Ziel, etwas auf das wir hinarbeiten können. Dies gibt unserem Leben einen Sinn und schlussendlich Erfüllung. Denn ohne Ziel, ohne Sinn, haben wir nur die hedonistische Option. Diese lässt sich mit der Vorigen kombinieren, ist für sich alleine jedoch ungenügend und keine dauerhafte Lösung. Wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind, worauf wir hinarbeiten, haben wir keine Ahnung wo wir uns eigentlich hinbewegen... und dann wundern wir uns eines Tages, wenn wir irgendwo gelandet sind wo wir eigentlich nicht hinwollten. Möglicherweise können wir ein Ziel verfehlen oder es nicht erreichen, aber wir wissen zumindest, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen.
Zerstörung von Wertesystemen und die Konsequenzen
Wie in so vielen Bereichen ist auch hier ein Blick auf die Vergangenheit wertvoll, denn es gibt viel, was wir aus geschichtlichen Ereignissen lernen können. So war eines der Wertesysteme, welches die Menschen in Europa verbunden hat, die christliche Religion. Doch wurde der Religion in den letzten paar hundert Jahren stark zugesetzt. Der wissenschaftliche Angriff auf die Fundamente der Religion ist kein Scherz, denn er war ebenso unerbittlich wie effektiv.
Das Problem ist, dass viele Menschen der Ansicht sind, die Bibel müsste beim Wort genommen werden. Nach dem Motto: Wer an den christlichen Gott glaubt, der sollte die Bibel als Faktenbuch betrachten. So wie das in einer heutigen, von der Wissenschaft geprägten Zivilisation eben üblich ist. Doch kommt man leider mit diesem Ansatz in der Bibel nicht besonders weit, denn für die Wissenschaften wurde es in den vergangenen Jahrhunderten zunehmend leichter zu beweisen, dass viele der Geschichten so nicht passiert sein können. Rein faktisch betrachtet sind sie einfach falsch. Das Alter des Universums und die Jungferngeburt sind nur das erste, was mir in den Sinn kommt. Die Entwicklung der modernen Wissenschaft begann erst im sechzehnten Jahrhundert. Ich will hier jedoch gar nicht weiter auf Details eingehen, worauf ich hinaus will ist folgendes: Immer mehr Menschen erkannten, dass eine sprichwörtliche Interpretation der Bibel nicht die Antworten auf die essentiellen Fragen der Menschheit gibt. Da der Klerus keine andere Möglichkeit anbot, standen die Menschen vor einer schweren Entscheidung: Etwas zu akzeptieren, von dem sie inzwischen wussten, dass es so nicht richtig ist oder es vollständig zu verwerfen! Viele entschieden sich für letzteres.
Doch hatte dies folgenschwere Auswirkungen, für die Individuen wie auch die Gesellschaft. Denn es brachte besondere Probleme mit sich. Die Religion war einer der Pfeiler der Existenz im Leben vieler Menschen. Je mehr Zeit und Energie ein Mensch für ein solches Wertesystem aufbringt, desto größer ist der Verlust wenn dieses System zerstört wird. Vor allem wenn es sich um etwas so zentrales wie die persönliche Religion handelt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein Vakuum entsteht, welches gefüllt werden muss. Die verlorene Doktrin muss also durch eine neue ersetzt werden, und das so schnell wie möglich, damit man sich nicht leer fühlt. Jedoch kann die Zerstörung der Religion noch einen weiteren Nebeneffekt haben. Nämlich, dass der Person bewusst wird, dass Wertesysteme als solche instabil sein können! Wenn das alte System, für welches man so viel Zeit und Energie aufgebracht hat, einfach in sich zusammengestürzt ist, warum sollten andere Systeme besser sein? Möglicherweise bemüht man sich etwas Neues zu finden, nur um erneut enttäuscht zu werden und ins Unglück zu stürzen. Vielleicht gibt es überhaupt kein System, das zuverlässig genug ist, um sein Leben daran zu orientieren! Sie könnten alle fehlerhaft und das Leben an sich sinnlos sein! Nihilismus nennt sich diese Form der Zerstörung von Weltanschauung und Werten. Nietzsche betrachtete den Nihilismus als einen langen Prozess, der vom antiken Griechenland bis ins Zeitalter der Aufklärung reichte.
Durch die Verwendung von Schrift begannen die organisierten Religionen Wissen anzuhäufen. Gelehrte waren oft Teil des Klerus. Diese Gelehrten bildeten den Grundstein der entstehenden Wissenschaften. Diese Wissenschaften wiederum waren es, die die Religion zerstörten. Das Werk der Eltern, von den eigenen Kindern zerschlagen, die Ironie sticht einem geradezu ins Auge! Nietzsche, der sich selbst als Betrachter dieser Prozesse verstand schrieb: "Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!" und dass es nicht genügend Wasser gäbe um unsere Hände rein zu waschen. Denn er sah voraus, was diese Entwicklung in der Zukunft an Leid über die Menschheit bringen sollte. Leider behielt er recht und der Nihilismus trieb die Menschen im letzten Jahrhundert in die Arme totalitärer Systeme, welche Millionen Menschenleben vernichten sollten! Denn der Nihilismus ist eine Bürde und keine Bereicherung. Er macht das Leben noch schwerer als es ohnehin schon ist. Er dient dazu alles Gute, alles Schöne im Leben, zu zersetzen und aufzulösen. Doch Leid bleibt bestehen! Theoretisch könnte man argumentieren "Auch Leid ist sinnlos", doch würde ich sagen, das hilft in Regel nicht. Viel Glück bei dem Versuch sich einzureden, der Verlust eines geliebten Menschen sei nicht so schlimm, da das Leben an sich keinen Sinn hat. Und physischer Schmerz lässt sich so auch nicht lindern! Ich wünsche viel Erfolg sich einreden zu wollen, ein gebrochener Knöchel schmerzt nicht, wenn man damit herumläuft...
Jordan B. Peterson - Maps of Meaning (Book & YouTube lecture series);
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